Rechtsprechung KW 44 - 2020

1.Rechtsprechung

1.1.Verfahrensrecht

Zur Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 14 AO
Die Anwendung des § 171 Abs. 14 AO ist nicht auf die Fälle unwirksamer Steuerfestsetzungen beschränkt. Vielmehr ist grundsätzlich jeder mit dem Steueranspruch zusammenhängende Erstattungsanspruch geeignet, eine Ablaufhemmung auszulösen. Allerdings muss der Erstattungsanspruch, soll er den Ablauf der Festsetzungsfrist hemmen, vor Ablauf dieser Frist entstanden sein. Eine im Vorgriff auf eine erwartete geänderte Steuerfestsetzung für die Streitjahre erbrachte Zahlung begründet einen die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 14 AO auslösenden Erstattungsanspruch, wenn es an einem formalen Rechtsgrund für die Zahlung fehlt.

BFH v. 04.08.2020, VIII R 39/18

Hinweis:
Gem. § 171 Abs. 14 AO endet die Festsetzungsfrist für einen Steueranspruch nicht, soweit ein damit zusammenhängender Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO noch nicht verjährt ist (§ 228 AO).

Streitig ist, ob die Festsetzungsfrist bei Erlass der angefochtenen Steuerbescheide der Streitjahre 2002 und 2003 im Ablauf gehemmt war: Die Kläger werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Ihre Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 2002 und 2003 hatten sie am 18.07.2003 und am 14.05.2004 abgegeben. Mit Schreiben v. 07.06.2013 gaben die Kläger „Berichtigungserklärungen“ für die Jahre 2002 bis 2011 ab. Sie teilten mit, zwischen den Jahren 1965 und 1998 versteuertes Vermögen auf Konten in der Schweiz gebracht zu haben. Zum Ausgleich der Steuerrückstände leisteten sie im Juli 2013 vorab eine Akontozahlung. Im September 2013 reichten die Kläger Ermittlungen der nicht deklarierten Einnahmen nach. Die Steuerfahndungsstelle wertete das Schreiben der Kläger v. 07.06.2013 als Selbstanzeige und leiteten für die Jahre 2007 bis 2011 ein Strafverfahren ein. Für die Jahre 2000 bis 2006 forderte die Behörde die Kläger auf, die Einkünfte, soweit noch nicht geschehen, zu belegen und aufzugliedern und Feststellungserklärungen einzureichen. Im Januar 2014 übersandten die Kläger der Steuerfahndungsstelle einen Teil der angeforderten Unterlagen. Mitte April 2015 teilte die Steuerfahndungsstelle den Klägern mit, dass die Prüfung der eingereichten Unterlagen und erteilten Auskünfte abgeschlossen worden sei. Die von den Klägern ermittelten und sich aus den von ihnen übersandten Tabellen ergebenden Beträge würden im Wesentlichen übernommen. Den vorgeschlagenen Änderungen stimmten die Kläger zu. Anfang August 2015 übersandte die Steuerfahndungsstelle dem beklagten FA die von den Prozessbevollmächtigten der Kläger gefertigten Anlagen KAP, AUS 2002 bis 2005, SO 2002 bis 2004, 2008 und 2009, R 2005 bis 2011 mit den nacherklärten Einnahmen, Anrechnungsbeträgen und Werbungskosten. Mit Bescheiden v. 27.08.2015 änderte das FA - neben den Einkommensteuerfestsetzungen der Jahre 2004 bis 2011 - auch die Einkommensteuerfestsetzungen der Streitjahre 2002 und 2003. Die Kläger beriefen sich insoweit auf Eintritt der Festsetzungsverjährung.

Der BFH hat entschieden, dass die Ablaufhemmung gem. § 171 Abs. 14 AO nicht auf Fälle einer unwirksamen Steuerfestsetzung beschränkt ist. Die Kläger haben die ESt-Erklärungen für die Streitjahre in den Jahren 2003 (für 2002) und 2004 (für 2003) abgegeben. Damit fiel der Beginn der Festsetzungsfrist auf das Ende der Jahre 2003 bzw. 2004 (§ 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO). Aufgrund der Steuerhinterziehung der Kläger verlängerte sich die Festsetzungsfrist gem. § 169 Abs. 2 S. 2 AO auf zehn Jahre. Sie endete damit am 31.12.2013 bzw. 31.12.2014 und war somit vorbehaltlich einer Ablaufhemmung beim Erlass der Änderungsbescheide am 27.8.2015 bereits abgelaufen. Der Ablauf der Festsetzungsfrist war gem, § 171 Abs. 14 AO gehemmt. Den Klägern stand infolge ihrer Akontozahlung ein mit dem Steueranspruch zusammenhängender Erstattungsanspruch gegen das FA zu, der bereits mit der Zahlung im Juli 2013 entstanden war.

Dieser Erstattungsanspruch war bis zum Erlass der streitigen Änderungsbescheide am 27.08.2015 nicht zahlungsverjährt und hat den Ablauf der Festsetzungsfrist für die Streitjahre gehemmt. Der Senat folgt der herrschenden Meinung, wonach der Anwendungsbereich des § 171 Abs. 14 AO nicht auf Fälle unwirksamer Steuerfestsetzungen beschränkt ist. Vielmehr ist grundsätzlich jeder mit dem Steueranspruch zusammenhängende Erstattungsanspruch geeignet, die Ablaufhemmung auszulösen. Allerdings muss der Erstattungsanspruch, soll er den Ablauf der Festsetzungsfrist hemmen, vor Ablauf dieser Frist entstanden sein. Dies ist hier der Fall: Denn eine im Vorgriff auf eine erwartete geänderte Steuerfestsetzung für die Streitjahre erbrachte Zahlung begründet einen die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 14 AO auslösenden Erstattungsanspruch, wenn es an einem formalen Rechtsgrund für die Zahlung fehlt. Ein solcher formaler Rechtsgrund bestand im Streitfall nicht. Zum einen lagen Steueränderungsbescheide im Zeitpunkt der Zahlung der Kläger noch nicht vor. Zum anderen ist ein sonstiger formaler Rechtsgrund für die Zahlung nicht ersichtlich.
 

1.2.Einkommensteuer

Prozesskosten in Zusammenhang mit einem Umgangsrechtsstreit als außergewöhnliche Belastungen
Unter der Existenzgrundlage i. S. d. § 33 Abs. 2 S. 4 EStG ist nur die materielle Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen zu verstehen (Bestätigung des BFH-Urteils v. 18.05.2017, VI R 9/16, BStBl. 2017 II S. 988).

Prozesskosten anlässlich eines Umgangsrechtsstreits und der Rückführung des Kindes aus dem Ausland zurück nach Deutschland sind gem. § 33 Abs. 2 S. 4 EStG vom Abzug als außergewöhnliche Belastungen ausgeschlossen.

BFH v. 13.08.2020

Hinweis:
Nach § 33 Abs. 2 S. 4 EStG sind Aufwendungen für die Führung eines Rechtsstreits (Prozesskosten) vom Abzug ausgeschlossen, es sei denn, es handelt sich um Aufwendungen, ohne die der Steuerpflichtige Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können.

Die Tochter des Klägers wurde kurz nach der Geburt von der Mutter in deren Heimatland in Südamerika verbracht. Der Kläger versuchte vergeblich, die Tochter mittels des Verfahrens zum Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung nach Deutschland zurückzuholen. Die dafür bisher entstandenen Gerichts- und Anwaltskosten von über 20.000 € machte er als außergewöhnliche Belastung geltend. Das Finanzamt lehnte dies unter Hinweis auf die entgegenstehende Rechtslage ab.

Der BFH hat entschieden, dass Zivilprozesskosten auch dann vom Abzug als außergewöhnliche Belastungen ausgeschlossen sind, wenn sei für einen Umgangsrechtsstreit zwecks Rückführung eines entführten Kindes aus dem Ausland zurück nach Deutschland entstanden sind. Anders als zuvor das FG bestätigte der BFH die Rechtsauffassung des Finanzamts. Für Prozesskosten gelte ab dem Veranlagungszeitraum 2013 ein grundsätzliches Abzugsverbot (§ 33 Abs. 2 S. 4 EStG). Nur wenn der Steuerpflichtige ohne die Aufwendungen Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine notwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können, sei ein Abzug der Prozesskosen (ausnahmsweise) zulässig. Existenzgrundlage im Sinne des Gesetzes sei aber nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers allein die materielle Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen. Durch die Kindesentführung sei ungeachtet der besonderen emotionalen und auch finanziellen Belastung für den Kläger allein dessen immaterielle Existenzgrundlage betroffen.

Es sei auch verfassungsrechtlich nicht geboten, die Begriffe der Existenzgrundlage und der lebensnotwendigen Bedürfnisse in § 33 Abs. 2 S. 4 EStG (auch) in einem immateriellen Sinne zu deuten. Der BFH bestätigte damit seine bisherige strenge Auffassung, der das FG mit einem sog. Rüttelurteil entgegengetreten war.
 

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