Rechtsprechung KW 23 - 2020

1.Rechtsprechung

1.1.Verfahrensrecht

Unterschriftserfordernis bei Pfändungsverfügungen
Für die Frage, ob eine Pfändungsverfügung i. S. d. § 309 Abs. 1 S. 2 AO in elektronischer Form vorliegt, ist darauf abzustellen, ob dem Adressaten ein elektronisches Dokument übermittelt wird (§ 87a Abs. 4 AO).

§ 309 Abs. 1 S. 2 AO verdrängt die Anwendung des § 119 Abs. 3 AO nicht insgesamt, sondern nur insoweit, als es um die Zulässigkeit einer Ersetzung der Schriftform durch die elektronische Form geht.

Pfändungsverfügungen können in der Regel nicht formularmäßig ergehen, weil es sich bei deren Erlass um Ermessensentscheidungen handelt, deren Begründung die Aufnahme der Ermessenserwägungen bedarf.

Mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassene Pfändungsverfügungen bedürfen gem. § 119 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 AO keiner Unterschrift des zuständigen Bediensteten der Vollstreckungsstelle.

BFH v. 17.12.2019, VII R 62/18

Hinweis:
Nach § 309 Abs. 1 S. 1 AO muss eine Pfändungsverfügung schriftlich ergehen.

Die Klägerin ist ein Kreditinstitut, dem als Drittschuldner durch das beklagte Hauptzollamt (HZA) häufig Pfändungs- und Einziehungsverfügungen zugestellt worden waren. Die streitigen Kontenpfändungen beruhten auf Vollstreckungsaufträgen einer Krankenkasse gegen einer GmbH. Hierfür erzeugte das HZA zwei Pfändungs- und Einziehungsverfügungen über das IT-Verfahren „Elektronisches Vollstreckungssystem (eVS)“, druckte diese über eine zentrale Druckstraße aus und veranlasste deren förmliche Zustellung. Die Kontenpfändungen enthielten im Briefkopf jeweils den Namen und die Anschrift des HZA, den Namen des Bearbeiters, jedoch weder eine Unterschrift noch ein Dienstsiegel noch eine Rechtsbehelfsbelehrung. Sie schließen jeweils mit dem Satz „Dieses Schriftstück ist ohne Unterschrift und ohne Namensangabe gültig“. Die Klägerin begehrt die gerichtliche Feststellung, dass die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen wegen Verstoßes gegen Formvorschriften unwirksam, mindestens aber rechtswidrig gewesen seien.

Der BFH hat entschieden, dass mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassene Pfändungsverfügungen gem. § 119 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 AO keiner Unterschrift des zuständigen Bediensteten der Vollstreckungsstelle bedürfen.

Das FG hat rechtsfehlerhaft angenommen, dass die beiden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen als formularmäßig erlassene Verwaltungsakte gem. § 119 Abs. 3 S. 2 AO keine Unterschrift oder Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten enthalten müssen. Anhand der bisher getroffenen Feststellungen kann aber nicht abschließend beurteilt werden, ob die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen zulässigerweise mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassen worden sind und deshalb keine Unterschrift oder Namenswiedergabe erforderlich ist. Nach § 309 Abs. 1 S. 1 AO muss eine Pfändungsverfügung schriftlich ergehen. Die beiden Pfändungsverfügungen sind nicht in der nach § 309 Abs. 1 S. 2 AO für solche Verwaltungsakte ausgeschlossenen elektronischen Form ergangen. Wie sich aus § 87a Abs. 4 AO ergibt, kommt es nicht auf die Erzeugung der Verwaltungsakte mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitungsanlagen an, sondern auf die äußere Form. Entscheidend ist, ob dem Adressaten ein elektronisches Dokument übermittelt wird. Das ist vorliegend unstreitig nicht der Fall. Die angefochtenen Pfändungsverfügungen entsprachen mangels Unterschrift nicht den Formerfordernissen nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über die Durchführung der Vollstreckung nach der Abgabenordnung.

Nach § 119 Abs. 3 S. 2 AO muss ein schriftlicher Verwaltungsakt grundsätzlich die Unterschrift oder die Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten enthalten, woran es im Streitfall fehlt. Pfändungsverfügungen können in der Regel nicht formularmäßig ergehen, weil es sich bei deren Erlass um Ermessens-entscheidungen handelt, deren Begründung die Aufnahme der Ermessenserwägungen bedarf.
 

1.2.Einkommensteuer

Berechnung der Entfernungspauschale bei Hin- und Rückweg an unterschiedlichen Arbeitstagen
Die Entfernungspauschale für Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte gilt arbeitstäglich zwei Wege (einen Hin- und einen Rückweg) ab. Legt ein Arbeitnehmer nur einen Weg zurück, so ist nur die Hälfte der Entfernungspauschale je Entfernungskilometer und Arbeitstag als Werbungskosten zu berücksichtigen.

BFH v. 12.02.2020, VI R 42/17

Hinweis:
Nach § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 S. 1 EStG sind Werbungskosten auch Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte i. S. d. § 9 Abs. 4 EStG. Zur Abgeltung dieser Aufwendungen ist nach Satz 2 der Vorschrift für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die erste Tätigkeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte von 0,30 € anzusetzen, höchstens jedoch 4.500 € im Kalenderjahr; ein höherer Betrag als 4.500 € ist anzusetzen, soweit der Arbeitnehmer einen eigenen oder ihm zur Nutzung überlassenen Kraftwagen benutzt.

Der Kläger war als Flugbegleiter in X beschäftigt. Er fuhr im Streitjahr mit seinem PKW an 12 Arbeitstagen von seiner Wohnung zum X Flughafen und zurück. An 31 Tagen fuhr er mit seinem PKW von der Wohnung zum X Flughafen, ohne an dem betreffenden Arbeitstag nach Hause zurückzufahren. In diesen Fällen kehrte er nach seinem Dienst als Flugbegleiter erst nach mindestens einem weiteren Arbeitstag an den X Flughafen zurück. Von dort trat der Kläger dann den Heimweg an. In der Einkommensteuererklärung machte der Kläger Fahrtkosten i. H. v. 3.984 € geltend, die das FA erklärungsgemäß berücksichtigte. Im Einspruchsverfahren begehrte der Kläger erfolglos den Abzug weiterer Fahrtkosten. Die Entfernungspauschale sei auch in den Fällen arbeitstäglich anzusetzen, in denen er die Hin- und Rückfahrt zwischen seiner Wohnung und dem X Flughafen an unterschiedlichen Tagen durchgeführt habe.

Der BFH hat entschieden, dass nur die Hälfte der Entfernungspauschale je Entfernungskilometer und Arbeitstag als Werbungskosten berücksichtigt werden kann, wenn ein Arbeitnehmer nur einen Weg zurücklegt.

Der Abzug der Entfernungspauschale setzt voraus, dass der Steuerpflichtige an einem Arbeitstag den Weg von der Wohnung zu seiner ersten Tätigkeitsstätte und von dort wieder zurück zu seiner Wohnung zurücklegt. Legt der Steuerpflichtige diese Wege an unterschiedlichen Arbeitstagen zurück, kann er die Entfernungspauschale für jeden Arbeitstag nur zur Hälfte geltend machen. Dem in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 S. 2 EStG vorgesehenen Kilometersatz von 0,30 € für jeden Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte liegt die typisierende Annahme zugrunde, dass der Steuerpflichtige einen Hinweg von der Wohnung zur ersten Tätigkeitsstätte und einen Rückweg von dort zu seiner Wohnung an jedem Arbeitstag zurücklegt. Legt der Steuerpflichtige nur einen dieser Wege an einem Arbeitstag zurück, ist nach dieser Grundannahme für eine solche Fahrt auch (nur) die Hälfte der Entfernungspauschale – mithin 0,15 € je Entfernungskilometer – zu berücksichtigen.
 

1.3.Körperschaftsteuerrecht

Abgrenzung zwischen beteiligungs- und obligationsähnlichen Genussrechten
Genussrechte führen nur dann zu Bezügen i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG, wenn der Genussrechtsinhaber kumulativ sowohl am Gewinn als auch am Liquidationserlös beteiligt ist (sog. beteiligungsähnliche Genussrechte).

Für die Beteiligung am Liquidationserlös ist auf das Abwicklungsendvermögen i. S. d. § 11 KStG, d. h. auf die Beteiligung an einem etwaigen Liquidations(mehr)erlös und die damit verbundene Beteiligung des Genussrechtsinhabers an den stillen Reserven, abzustellen, nicht hingegen auf die Gewinnabhängigkeit der Genussrechtsausschüttungen, die Stellung eines Alleingesellschafters, die lange Laufzeit des Genussrechts oder auf ein Wandlungsrecht des Genussrechtsinhabers zum Erwerb von Gesellschaftsanteilen, selbst wenn dessen Ausübung wahrscheinlich ist.

Zur Frage des Rechtsmissbrauchs bei zwischengeschalteten Kapitalgesellschaften.

BFH v. 14.08.2019, I R 44/17

Hinweis:
Gem. § 8b Abs. 1 S. 1 KStG bleiben bei der Ermittlung des körpersteuerpflichtigen Einkommens Bezüge i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG außer Ansatz. Hierzu gehören u. a. Bezüge aus „Genussrechten, mit denen das Recht am Gewinn und Liquidationserlös einer Kapitalgesellschaft verbunden ist“. Für die das Genussrecht emittierende Kapitalgesellschaft regelt § 8 Abs. 3 S. 2 Alt. 2 KStG entsprechend, dass „Ausschüttungen jeder Art auf Genussrechte, mit denen das Recht auf Beteiligung am Gewinn und am Liquidationserlös der Kapitalgesellschaft verbunden ist“, nicht das Einkommen dieser Kapitalgesellschaft mindern.

Die Beteiligten streiten sich darüber, ob Genussrechte ohne Beteiligung am Liquidationserlös zu Einkünften i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG führen. Dabei wurde die Frage aufgeworfen, ob die Länge einer Genussrechtslaufzeit – entgegen der Verwaltungsauffassung – kein geeignetes Kriterium ist, um zwischen Einkünften nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 und § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG zu unterscheiden. Des Weiteren streiten sich die Beteiligten darüber, ob die Zwischenschaltung einer Kapitalgesellschaft zur Vermeidung von Sale-and-buy-back-Geschäften missbräuchlich i. S. d. § 42 AO sein kann.

Der BFH hat entschieden, dass Genussrechte nur dann zu Bezügen i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG führen, wenn der Genussrechtsinhaber kumulativ sowohl am Gewinn als auch am Liquidationserlös beteiligt ist (sog. beteiligungsähnliche Genussrechte).

Nach seinem klaren Wortlaut erfasst § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG – ebenso wie § 8 Abs. 3 S. 2 Alt. 2 KStG – nur diejenigen Genussrechte, bei denen der Genussrechtsinhaber sowohl am Gewinn als auch am Liquidationserlös beteiligt ist. Nur wenn beide Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind, vermitteln die Genussrechte aus steuerrechtlicher Sicht eine gesellschafterähnliche Rechtsstellung, die zu Einkünften i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG führt. Fehlt eine der beiden Voraussetzungen, liegen dagegen keine beteiligungsähnlichen, sondern obligationsähnliche Genussrechte vor, aus denen Einkünfte i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG erzielt werden. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das FG zutreffend erkannt, dass allein die gewinnabhängige Vergütung nicht zu einer Beteiligung der Klägerin am Liquidationserlös i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG führt. Dass die Klägerin durch die gewinnabhängige Vergütung an den im laufenden Geschäftsverkehr aufgedeckten stillen Reserven beteiligt ist, reicht nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes gerade nicht aus, um ein Genussrecht mit Beteiligungscharakter anzunehmen. Vielmehr ist zusätzlich die Beteiligung am Liquidations(mehr)erlös erforderlich. Im Streitfall ist hingegen nach der Genussrechtsvereinbarung nur eine Rückzahlung des Genussrechtskapitals zum Nennbetrag vorgesehen. Dies gilt sowohl für den Fall einer Liquidation als auch für jeden anderen Fälligkeitszeitpunkt.
 

1.4.Bilanzsteuerrecht

Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten (hier: Räumung eines Baustellenlagers und Rücktransport des Materials)
Ungeachtet einer bestehenden Außenverpflichtung (hier: Räumung eines Baustellenlagers bei Vertragsende) ist ein Ansatz einer Verbindlichkeitsrückstellung (§ 249 Abs. 1 S. 1 HGB) dann ausgeschlossen, wenn die Verpflichtung in ihrer wirtschaftlichen Belastungswirkung von einem eigenbetrieblichen Interesse vollständig „überlagert“ wird.

BFH v. 22.01.2020, XI R 2/19

Hinweis:
Gem. § 249 Abs. 1 S. 1 HGB sind in der Handelsbilanz u. a. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden. Die daraus folgende Passivierungspflicht gehört zu den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung und war gem. § 5 Abs. 1 S. 1 EStG i. V. m. § 8 Abs. 1 S. 1 KStG sowohl für die Steuerbilanz der Klägerin als auch im Rahmen der Ermittlung ihres Gewerbeertrages (§ 7 S. 1 GewStG) zu beachten.

Die Klägerin, eine im Spezialgerüstbau tätige GmbH, hatte Rückstellungen für den Aufwand der Demontage des auf der jeweiligen Baustelle befindlichen Materials gebildet. Das FA vertrat u. a. die Auffassung, die Bildung einer Rückstellung für die mit der Auflösung von Baustellen verbundenen Aufwendungen sei unzulässig, da Rückstellungen für drohende Verluste steuerrechtlich nicht zulässig seien und die Voraussetzungen für die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten nicht vorlägen.

Der BFH hat entschieden, dass der Ansatz einer Verbindlichkeitsrückstellung dann ausgeschlossen ist, wenn die Verpflichtung in ihrer wirtschaftlichen Belastungswirkung von einem eigenbetrieblichen Interesse vollständig „überlagert“ wird.

Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten setzen entweder das Bestehen einer ihrer Höhe nach ungewissen Verbindlichkeit oder die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Entstehens einer Verbindlichkeit dem Grunde nach voraus, deren Höhe zudem ungewiss sein kann. Ist die Verpflichtung am Bilanzstichtag nicht nur der Höhe nach ungewiss, sondern auch dem Grunde nach noch nicht rechtlich entstanden, so kann eine Rückstellung nur unter der weiteren Voraussetzung gebildet werden, dass sie wirtschaftlich in den bis zum Bilanzstichtag abgelaufenen Wirtschaftsjahren verursacht ist. Unter Berücksichtigung des Verbots sog. Aufwandsrückstellungen (§ 249 Abs. 2 S. 1 HGB) setzt der Ansatz einer Rückstellung als Verbindlichkeitsrückstellung eine Verpflichtung voraus, die gegenüber einer dritten Person besteht (sog. Außenverpflichtung) und als erzwingbarer Anspruch eine wirtschaftliche Belastung darstellt. Das FG hat die Sachumstände des Streitfalls dahingehend gewürdigt, dass das eigenbetriebliche Interesse der Klägerin an der Auflösung des (jeweiligen) Materiallagers an den Baustellen und der Rückführung des (für die weitere Betriebsfortführung der Klägerin notwendigen) Materials in das Zentrallager der Klägerin eine wirtschaftliche Bedeutung einnimmt, die den Umstand der zivilrechtlichen Verpflichtung zur Räumung des jeweiligen Grundstücks vollen Umfangs überlagert. Das FG hat damit unter dem Gesichtspunkt einer dadurch ausgelösten wirtschaftlichen Belastung eine Abwägung der Räumungsverpflichtung und des Interesses am Rücktransport des eigenen betriebsnotwendigen Materials vorgenommen. Es ist dabei als Gegenstand dieser einzelfallbezogenen Würdigung zu einem Ergebnis („vollständige Überlagerung des eigenbetrieblichen Interesses“) gelangt, das nicht durch Denkfehler oder die Verletzung von Erfahrungssätzen beeinflusst ist und damit die Bindung des Revisionsgerichts auf der Grundlage des § 118 Abs. 2 FGO auslöst.
 

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