Rechtsprechung KW 21 - 2020

1.Rechtsprechung

1.1.Verfahrensrecht

Offenbare Unrichtigkeit i. S. d. § 129 S. 1 AO bei Einsatz eines Risikomanagementsystems
Sind vom Steuerpflichtigen in seiner Steuererklärung angegebene Einkünfte im Einkommensteuerbescheid nicht berücksichtigt worden, weil die Anlage S zur Einkommensteuererklärung versehentlich nicht eingescannt und die angegebenen Einkünfte somit nicht in das elektronische System übernommen wurden, liegt ein mechanisches Versehen und somit grundsätzlich eine offenbare Unrichtigkeit i. S. d. § 129 S. 1 AO vor.

Ein mechanisches Versehen ist nicht mehr gegeben, sondern es liegt ein Fehler im Bereich der Sachverhaltsermittlung nach § 88 AO vor, wenn der Sachbearbeiter eine weitere Sachverhaltsermittlung unterlässt, obwohl sich ihm aufgrund der im Rahmen des Risikomanagementsystems ergangenen Prüf- und Risikohinweise eine weitere Prüfung des Falles hätte aufdrängen müssen.

BFH v. 14.01.2020, VIII R 4/17

Hinweis:
Nach § 129 S. 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass des Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen.

Der Kläger hatte in seiner auf dem amtlichen Vordruck eingereichten Einkommensteuererklärung u. a. Einkünfte aus selbständiger Arbeit i. H. v. 128.641 € erklärt. Beim Einscannen der Unterlagen im Veranlagungsbezirk des FA wurde die Anlage S zur Einkommensteuererklärung versehentlich übersehen, so dass eine Erfassung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit des Klägers unterblieb. Nach maschineller Überprüfung der eingescannten Daten durch ein Risikomanagementsystem gingen im Veranlagungsbezirk mehrere Prüf- und Risikohinweise ein, die u. a. auf Einkünfte „des Ehemanns/der Ehefrau von weniger als 4.200 €“ hinwiesen und eine „personelle Prüfung“ des als „risikobehaftet“ eingestuften Falls vorsahen. Die zuständige Sachbearbeiterin bearbeitete diese Prüf- und Risikohinweise, prüfte jedoch nicht, ob die Einkünfte aus selbständiger Arbeit des Klägers zutreffend im Einkommensteuerbescheid übernommen worden waren. Erst im Folgejahr wurde der Fehler erkannt und der Einkommensteuerbescheid nach § 129 S. 1 AO berichtigt. Das Finanzgericht vertrat die Auffassung, dass das FA zur Berichtigung des Einkommensteuerbescheids berechtigt gewesen sei.

Der BFH hat entschieden, dass ein bestandskräftiger Steuerbescheid nicht mehr nachträglich vom FA nach § 129 AO berichtigt werden kann, wenn die fehlende Erfassung der vom Steuerpflichtigen ordnungsgemäß erklärten Einkünfte trotz ergangener Prüf- und Risikohinweise im Rahmen eines Risikomanagementsystems nicht auf einem bloßen „mechanischen Versehen“ beruht.

§ 129 S. 1 AO erlaubt nur die Berichtigung von Schreibfehlern, Rechenfehlern und ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten (sog. mechanische Versehen), die beim Erlass des Verwaltungsakts unterlaufen sind. § 129 AO ist dagegen nicht anwendbar, wenn dem Sachbearbeiter des FA ein Tatsachen- oder Rechtsirrtum unterlaufen ist oder er den Sachverhalt mangelhaft aufgeklärt hat. Im vorliegenden Fall beruhte der fehlerhafte Einkommensteuerbescheid darauf, dass die zutreffende Höhe der im Bescheid angesetzten Einkünfte nicht aufgeklärt wurde, obwohl aufgrund der Risiko- und Prüfhinweise Zweifel an der Richtigkeit dieser Einkünfte bestanden und deshalb eine weitere Sachaufklärung geboten war. Das schließt das Vorliegen eines bloß mechanischen Versehens und damit die Anwendung der Berichtigungsnorm des § 129 AO aus.

Keine unentgeltliche Zuwendung i. S. d. § 278 Abs. 2 S. 1 AO durch Zahlung der laufenden Kosten des von Ehegatten gemeinsam bewohnten Hauses
Die Zahlung der laufenden Kosten des von Ehegatten gemeinsam bewohnten Hauses durch den Alleinverdiener-Ehegatten stellt auch dann keine unentgeltliche Zuwendung i. S. d. § 278 Abs. 2 S. 1 AO an den anderen Ehegatten dar, wenn das Haus im Alleineigentum des anderen Ehegatten steht.

Ist der Alleinverdiener-Ehegatte zivilrechtlich verpflichtet, die Zins- und Tilgungsleistungen für das gemeinsam aufgenommene Darlehen vollständig zu begleichen, kommt es mangels Ausgleichsanspruchs nach § 426 Abs. 1 S. 1 BGB nicht zu einer für eine Zuwendung erforderlichen Vermögensverlagerung.

Zahlt der Alleinverdiener-Ehegatte die übrigen laufenden Unterhaltskosten für das im Alleineigentum des anderen Ehegatten stehende Haus, so handelt es sich um Unterhaltsleistungen nach §§ 1360, 1360a BGB.

BFH v. 17.12.2019, VII R 18/17

Hinweis:
Gem. § 278 Abs. 1 AO darf die Vollstreckung nach der Aufteilung nur hinsichtlich der auf die einzelnen Schuldner entfallenden Beträge durchgeführt werden. Werden im Falle der Aufteilung einer Gesamtschuld gem. §§ 268 ff. AO einem Steuerschuldner von einer mit ihm zusammenveranlagten Person in oder nach dem Veranlagungszeitraum, für den noch Steuerrückstände bestehen, unentgeltlich Vermögensgegenstände zugewendet, kann gem. § 278 Abs. 2 AO der Empfänger bis zum Ablauf des zehnten Kalenderjahres nach dem Zeitpunkt des Ergehens des Aufteilungsbescheids über den sich nach § 278 Abs. 1 AO ergebenden Wert hinaus bis zur Höhe des gemeinen Werts der Zuwendung für die Steuer in Anspruch genommen werden.

Die Klägerin ist verheiratet und wurde im Jahr 2010 mit ihrem Ehemann zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Eheleute wohnten gemeinsam mit ihren zwei minderjährigen Kindern in einem Einfamilienhaus. Sie waren zunächst hälftige Miteigentümer und hatten gemeinschaftlich im Jahr 2005 ein Darlehen zur Finanzierung des Hauses aufgenommen. Im Jahr 2007 übertrug der Ehemann seinen Miteigentumsanteil auf die Klägerin. Nach dem notariellen Kaufvertrag übernahm die Klägerin die auf dem Grundstück lastenden Grundschulden. Der Zins- und Tilgungsdienst für die den Grundschulden zugrunde liegenden Darlehen verblieb – ebenso wie die Darlehen selbst – bis zur vollständigen Tilgung anteilig beim Ehemann. Auf Antrag der Klägerin teilte das FA die Einkommensteuer 2010 auf. Dabei entfielen 100 % des rückständigen Betrags auf den Ehemann. Zugleich erging ein ergänzender Bescheid zur Aufteilung nach § 278 Abs. 2 AO, mit welchem das FA die Klägerin i. H. v. 53.181,82 € in Anspruch nahm. Die Klägerin habe eine Auslandsgutschrift ihres Ehemannes i. H. v. 8.750 € erhalten. Zudem habe der Ehemann sämtliche Aufwendungen für das Einfamilienhaus in der Form von unentgeltlichen Zuwendungen an die Klägerin getragen.

Der BFH hat entschieden, dass mangels Ausgleichsanspruchs nach § 426 Abs. 1 S. 1 BGB nicht zu einer für eine Zuwendung erforderlichen Vermögensverlagerung kommt, wenn der Alleinverdiener-Ehegatte die Zins- und Tilgungsleistungen für das gemeinsam aufgenommene Darlehen vollständig begleicht. Bei der Zahlung der übrigen laufenden Unterhaltskosten handelt es sich um Unterhaltsleistungen.

Eine Zuwendung i. S. d. § 278 Abs. 2 S. 1 AO ist jede Übertragung eines Vermögensgegenstands aus dem Verfügungsbereich eines Gesamtschuldners in den Verfügungsbereich des anderen Gesamtschuldners, die einen Wechsel in der dinglichen Zurechnung auslöst (Vermögensverschiebung). Indem der alleinverdienende Ehemann der Klägerin Zinsen und Tilgung auf das gemeinsam aufgenommene Darlehen zahlte, erbrachte er keine Zuwendung an die Klägerin, weil er auf seine eigene Schuld – und nicht auf eine fremde Schuld – leistete. Dazu war er als Darlehensnehmer und Gesamtschuldner gem. § 421 S. 1 BGB im Außenverhältnis gegenüber der Darlehensgeberin verpflichtet.

Diese Zahlungen wirkten nach § 422 Abs. 1 S. 1 BGB zwar (auch) zugunsten der Klägerin, weil diese durch die Leistung ihres Ehemannes im Außenverhältnis von einer Verbindlichkeit befreit wurde. Eine Zuwendung lag darin allerdings nicht, weil dem Ehemann kein zivilrechtlicher Ausgleichsanspruch gegen die Klägerin zustand, auf den er hätte verzichten können. Werden von Ehegatten in einer intakten Ehe gemeinsam Darlehen für gemeinschaftliche Zwecke aufgenommen und ist nur ein Ehegatte in der Lage, die Zins- und Tilgungsleistungen zu erbringen, scheidet ein Ausgleichsanspruch nach § 426 Abs. 1 S. 1 BGB gegenüber dem anderen Ehegatten regelmäßig aus.
 
 
 

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