Rechtsprechung KW 10-2020

1.Rechtsprechung

1.1.Verfahrensrecht

Erlass von Nachzahlungszinsen
Die Erhebung von Nachforderungszinsen nach § 233a AO ist nicht allein deshalb sachlich unbillig, weil die Änderung eines Steuerbescheids gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO erst nach Ablauf von 13 Monaten nach Erlass des Grundlagenbescheids erfolgt (Anschluss an BFH-Urteil vom 01.06.2016 - X R 66/14, BFH/NV 2016, 1668).
Einwendungen gegen die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Zinshöhe sind vorrangig im Rechtsbehelfsverfahren gegen die Zinsfestsetzung und nicht im Erlassverfahren geltend zu machen.
BFH v. 03.12.2019, VIII R 25/17
Hinweis:
Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre.
Der Kläger war als Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer und Notar tätig und erzielte als Gesellschafter mehrerer Partnerschaftsgesellschaften Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Aufgrund einer Mitteilung über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, die beim FA am 08.04.2014 einging, änderte dieser mit auf § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO gestütztem Änderungsbescheid vom 05.05.2015 die für das Streitjahr festgesetzte Einkommensteuer und setzte erstmalig Nachzahlungszinsen in Höhe von 305 EUR fest. Der Kläger beantragte den Erlass der Nachzahlungszinsen in Höhe von 140 EUR. Zur Begründung führte er aus, der Änderungsbescheid sei erst 13 Monate nach Eingang der Mitteilung beim FA erlassen worden. Soweit die übliche Bearbeitungszeit von sechs Monaten überschritten sei, dürfe sich dies bei der Zinsberechnung nicht zu ihrem Nachteil auswirken. Die auf die überlange Bearbeitungsdauer entfallenden Zinsen müssten aus Billigkeitsgründen erlassen werden. Das FA lehnte den beantragten Erlass der Nachzahlungszinsen ab und wies auch den gegen den Ablehnungsbescheid eingelegten Einspruch der Kläger mit Einspruchsentscheidung als unbegründet zurück.
Der BFH hat entschieden, dass die Erhebung von Nachzahlungszinsen nicht allein deshalb sachlich unbillig ist, weil die Änderung eines Steuerbescheids gem. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO erst nach Ablauf von 13 Monaten nach Erlass des Grundlagenbescheids erfolgt.
Die Unbilligkeit der Einziehung einer Steuer, an die § 227 AO die Möglichkeit eines Erlasses knüpft, kann sich aus sachlichen oder aus persönlichen Gründen ergeben. Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen, auf die die Kläger ihren Erlassantrag alleine stützen, ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft. Die Verzinsungsregelung in § 233a AO bezweckt einen typisierten Ausgleich für die Liquiditätsverschiebungen, die aus dem individuell sehr unterschiedlichen Verlauf des Besteuerungsverfahrens entstehen können. Es soll ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Aus welchem Grund es zu einem Unterschiedsbetrag gekommen ist und ob die möglichen Zins- und Liquiditätsvorteile tatsächlich bestanden und genutzt wurden, ist grundsätzlich unbeachtlich. Der durch die Verzinsung bezweckte Vorteilsausgleich behält grundsätzlich auch dann seinen Sinn, wenn staatliche Stellen für deren Entstehung und Höhe (mit-)verantwortlich sind. Eine verzögerte Bearbeitung des Steuerfalles durch die Finanzbehörde ist deshalb für sich genommen nicht geeignet, eine abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen zu begründen.

Beginn des Laufs von Hinterziehungszinsen bei einer durch Unterlassen der Anzeige begangenen Hinterziehung von Schenkungsteuer
Bei einer durch Unterlassen der Anzeige begangenen Hinterziehung von Schenkungsteuer beginnt der Lauf der Hinterziehungszinsen zu dem Zeitpunkt, zu dem das FA bei ordnungsgemäßer Anzeige und Abgabe der Steuererklärung die Steuer festgesetzt hätte.
Der Zeitpunkt für den Beginn des Zinslaufs kann unter Berücksichtigung der beim zuständigen FA durchschnittlich erforderlichen Zeit für die Bearbeitung eingegangener Schenkungsteuererklärungen bestimmt werden.
BFH v. 28.08.2019, II R 7/17
Hinweis:
Gem. § 235 Abs. 1 S. 1 AO sind hinterzogene Steuern zu verzinsen. § 235 AO soll dem Nutznießer einer Steuerhinterziehung den durch die Tat erlangten Vorteil, dass er die gesetzlich entstandene Steuer erst zu einem späteren Zeitpunkt zahlen muss, wieder entziehen und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sicherstellen.
Die Klägerin reichte zusammen mit ihrem Ehemann am 25.03.2010 eine Selbstanzeige beim FA ein. Darin erklärte sie die schenkweise Übertragung zweier Konten bei Schweizer Banken auf sich und ihren Ehemann nach, die ihre Mutter zum Stichtag 17.04.2007 bzw. 19.12.2007 auf die Ehegatten umgeschrieben hatte. Zudem erklärte sie die ebenfalls schenkweise Übertragung eines schweizerischen Grundstücks von ihrer Mutter auf sich am 17.07.2008 nach. Am 11.04.2013 erließ das FA gegenüber der Klägerin für die Schenkungen vom 19.12.2007 (unter Berücksichtigung der Vorschenkung vom 17.04.2007) und vom 17.07.2008 (unter Berücksichtigung der Vorschenkungen vom 17.04.2007 und 19.12.2007) zwei Schenkungsteuerbescheide. Das FA setzte Hinterziehungszinsen gem. § 235 AO wegen hinterzogener Schenkungsteuer fest. Den Zinslauf berechnete es für die Schenkung vom 19.12.2007 ab dem 19.06.2008 und für die Schenkung vom 17.07.2008 ab dem 18.01.2009.
Der BFH hat entschieden, dass bei einer durch Unterlassen der Anzeige begangenen Hinterziehung von Schenkungsteuer der Lauf der Hinterziehungszinsen zu dem Zeitpunkt beginnt, zu dem das FA bei ordnungsgemäßer Anzeige der Steuererklärung die Steuer festgesetzt hätte.
Gem. § 235 Abs. 1 S. 1 AO sind hinterzogene Steuern zu verzinsen. § 235 AO soll dem Nutznießer einer Steuerhinterziehung den durch die Tat erlangten Vorteil, dass er die gesetzlich entstandene Steuer erst zu einem späteren Zeitpunkt zahlen muss, wieder entziehen und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sicherstellen. Der Lauf der Hinterziehungszinsen beginnt grundsätzlich u. a. mit dem Eintritt der Verkürzung (§ 235 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 AO), also mit der Tatvollendung. Für den Eintritt der Steuerverkürzung ist bei der Schenkungsteuer als stichtagsbezogener Steuer der Zeitpunkt maßgebend, zu dem das FA bei ordnungsgemäßer Anzeige und Abgabe der Steuererklärung die Steuer festgesetzt hätte. Dabei kann der Zeitpunkt für den Beginn des Zinslaufs unter Berücksichtigung der beim zuständigen FA durchschnittlich erforderlichen Zeit für die Bearbeitung eingegangener Schenkungsteuererklärungen bestimmt werden.

1.2.Erbschaft-/Schenkungsteuer

Erbschaft- und Schenkungsteuer: Maßgebende Steuerklasse beim Erwerb vom biologischen Vater
Beim Erwerb eines Kindes von seinem leiblichen Vater, der nicht auch der rechtliche Vater ist (biologischer Vater), findet die Steuerklasse III Anwendung.
BFH v. 05.12.2019, II R 5/17
Hinweis:
Nach § 15 Abs. 1 ErbStG richtet sich die Steuerklasseneinteilung im Regelfall für jeden einzelnen Erb- oder Schenkungsfall nach dem persönlichen Verhältnis des Erwerbers zum Erblasser oder Schenker. Die Einteilung der Steuerpflichtigen in unterschiedliche Steuerklassen ist maßgebend für die Bestimmung der persönlichen Freibeträge (§§ 16, 17 ErbStG) und die Höhe des Steuersatzes (§ 19 ErbStG). Zur Steuerklasse I gehören u. a. Kinder und Stiefkinder (§ 15 Abs. 1 Steuerklasse I Nr. 2 ErbStG). In die Steuerklasse III fallen alle übrigen Erwerber (§ 15 Abs. 1 Steuerklasse III ErbStG).
Im Streitfall war der Kläger der leibliche, aber nicht der rechtliche Vater. Der Kläger war also der sog. biologische Vater seiner Tochter. Der rechtliche Vater war ein anderer Mann, mit dem die Mutter zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes verheiratet war. Der Kläger schenkte seiner leiblichen Tochter 30.000 € und beantragte beim FA die Anwendung der günstigen Steuerklasse I. Das FA lehnte mit dem Hinweis ab, die Steuerklasse I finde nur im Verhältnis der Tochter zu ihrem rechtlichen Vater Anwendung. Rechtlicher Vater sei aber der Ehemann der Mutter und nicht der Kläger. Das Finanzgericht gab dem Kläger Recht. Es gebe keinen Grund, die einschlägige Bestimmung des § 15 Abs. 1 Steuerklasse I Nr. 2 ErbStG nach den zivilrechtlichen Regelungen eng auszulegen und nur den Erwerb vom rechtlichen Vater zu privilegieren.
Der BFH hat entschieden, dass auf das Erbe nicht die für Kinder günstige Steuerklasse I Anwendung findet, sondern nach der Steuerklasse III besteuert wird, wenn ein Kind von seinem biologischen Vater erbt.
Der BFH sah dies anders. Für die Steuerklasseneinteilung nach § 15 Abs. 1 ErbStG sind die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften der §§ 1589 ff. BGB über die Abstammung und Verwandtschaft maßgebend. Diese unterscheiden zwischen dem rechtlichen Vater und dem biologischen Vater und akzeptieren, dass die rechtliche und die biologische Vaterschaft auseinanderfallen können. Nur der rechtliche Vater hat gegenüber dem Kind Pflichten, wie zum Beispiel zur Zahlung von Unterhalt. Außerdem ist das Kind nur gegenüber seinem rechtlichen, nicht aber seinem biologischen Vater erb- und pflichtteilsberechtigt. Dies rechtfertigt es, den rechtlichen Vater auch für die Erbschaft- und Schenkungsteuer finanziell besser zu stellen. Könnte ein Kind von seinem rechtlichen und zugleich von seinem biologischen Vater nach der Steuerklasse I erwerben, wäre dies schließlich eine Besserstellung gegenüber Kindern, die, wie in den allermeisten Fällen, nur „einen einzigen“ Vater haben und nur von diesem steuergünstig erwerben können.

1.3.Umsatzsteuer

Zur Steuerbefreiung medizinischer Analysen eines Facharztes für klinische Chemie und Laboratoriumsdiagnostik - Nachfolgeentscheidung zum EuGH-Urteil Peters vom 18.09.2019 - C-700/17
Medizinische Analysen eines Facharztes für klinische Chemie und Laboratoriumsdiagnostik können nicht nur nach § 4 Nr. 14 Buchst. b UStG, sondern auch nach § 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 1 UStG steuerfrei sein (entgegen Abschn. 4.14.2 Abs. 2 Satz 1 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses --UStAE--).
Das Bestehen eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient ist keine Voraussetzung für die Steuerbefreiung einer Tätigkeit im Rahmen einer Heilbehandlung i. S. des § 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 1 UStG (entgegen Abschn. 4.14.1 Abs. 1, 4.14.5 Abs. 9 UStAE).
BFH v. 18.12.2019, XI R 23/19 (XI R 23/15)
Hinweis:
§ 4 Nr. 14 Bst. a UStG befreit die "Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut, Hebamme oder einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit durchgeführt werden". Unionsrechtlich beruht dies auf Art. 132 Abs. 1 Bst. c MwStSystRL. Danach sind "Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe durchgeführt werden", steuerfrei.
Der Kläger, ein Facharzt für klinische Chemie und Laboratoriumsdiagnostik, führte in den Streitjahren ausschließlich Umsätze an die X GmbH (X), ein Unternehmen, das niedergelassenen Ärzten, Rehakliniken, Gesundheitsämtern und Krankenhäusern Laborleistungen zur Verfügung stellt, aus. Dazu erbrachte er gegen eine feste Monatsvergütung Leistungen der Befunderhebung mit dem Ziel konkreter laborärztlicher Diagnosen sowie ärztliche Hilfestellungen bei transfusionsmedizinischen Maßnahmen für konkrete Behandlungsverhältnisse, die sich als Bestandteile von Gesamtverfahren darstellten, die konkreten Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin dienten. Der Kläger ging davon aus, dass diese Umsätze als Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin gem. § 4 Nr. 14 Bst. a S. 1 UStG steuerfrei seien, und gab folglich für die Streitjahre keine Umsatzsteuererklärungen ab. Das FA war hingegen der Auffassung, diese Umsätze seien steuerpflichtig, da Leistungen von klinischen Chemikern und Laborärzten nicht auf einem persönlichen Vertrauensverhältnis zu den Patienten beruhen würden, was aber Voraussetzung für die Anwendung der Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 Bst. a S. 1 UStG sei. Es erließ daher für die Streitjahre Schätzungsbescheide über Umsatzsteuer auf Basis der Nettohonorare.
Der BFH hat entschieden, dass medizinische Analysen eines Facharztes für klinische Chemie und Laboratoriumsdiagnostik nach § 4 Nr. 14 Bst. a S. 1 UStG steuerfrei sein können.
Medizinische Analysen, die von praktischen Ärzten im Rahmen ihrer Heilbehandlungen angeordnet werden, können zur Aufrechterhaltung der menschlichen Gesundheit beitragen, da sie ebenso wie jede vorbeugend erbrachte ärztliche Leistung darauf abzielen, die Beobachtung und die Untersuchung der Patienten zu ermöglichen, noch bevor es erforderlich wird, eine etwaige Krankheit zu diagnostizieren, zu behandeln oder zu heilen. In Anbetracht des mit den betreffenden Steuerbefreiungsregelungen verfolgten Zwecks, die Kosten ärztlicher Heilbehandlungen zu senken, und im Einklang mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität, der es verbietet, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln, können medizinische Analysen, die der vorbeugenden Beobachtung und Untersuchung der Patienten dienen, "ärztliche Heilbehandlungen" oder "Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin" i. S. von Art. 132 Abs. 1 Bst. b bzw. c MwStSystRL sein.
 
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