Rechtsprechung KW 02-2018

 

1.   Rechtsprechung

1.1.  Verfahrensrecht

Billigkeitserlass von Nachzahlungszinsen
Die Beispiele 14 und 15 zu Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a halten, soweit dort für den Beginn des „fiktiven Zinslaufs“ nicht auf den Tag der freiwilligen Zahlung, sondern erst auf den Folgetag abgestellt wird, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht ein.
Für die Ermittlung der vollen Monate i. S. des § 238 Abs. 1 Satz 2 AO ist bei Erstattungszinsen der Tag der Zahlung mitzurechnen und das Ende des (ersten) vollen Monats gemäß §§ 187 Abs. 2, 188 Abs. 2 Variante 2 BGB i. V. m. § 108 AO zu bestimmen.
BFH  v. 31.05.2017, I R 92/15
Hinweis:
Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.
Die Klägerin – eine Kapitalgesellschaft – teilte dem FA schriftlich mit, dass aufgrund einer laufenden Betriebsprüfung Körperschaftsteuernachzahlungen zu erwarten seien. Sie kündigte eine freiwillige Körperschaftsteuerzahlung für die Jahre 1998 bis 2000 an. Der Betrag wurde am 30.04.2007 auf einem Konto der Finanzbehörde gutgeschrieben und von dieser angenommen. Nach Abschluss der Betriebsprüfung erließ das FA geänderte Körperschaftsteuerbescheide für die Jahre 1998 bis 2000 und setzte entsprechend Steuern und Nachzahlungszinsen gem. § 233a AO fest. Daraufhin beantragte die Klägerin auf der Grundlage von Nr. 70.1.1 S. 2 AEAO zu § 233a AO aus sachlichen Billigkeitsgründen den Erlass von Nachzahlungszinsen zur Körperschaftsteuer. Die Klägerin ging dabei davon aus, dass Zinsen für 43 volle Monate (Zahlung am 30.04.2007 bis Bekanntgabe Bescheid v. 29.11.2010) zu erlassen sind. Das FA gab dem Antrag nur teilweise statt. Es berücksichtigte den erlassfähigen Betrag auf der Grundlage von lediglich 42 vollen Zinsmonaten. Nach den Beispielen 14 und 15 zu Nr. 70.1.2 AEAO zu § 233a beginne der „fiktive Zinslauf“, der über das Ausmaß der zu erlassenden Zinsen entscheide, erst am Tage nach der Zahlung. Folglich gehe es um den Zeitraum v. 01.05.2007 bis zum 29.11.2010. Für das Erreichen des vollen 43. Monats fehle damit ein Tag.
Der BFH hat entschieden, dass für den Beginn des „fiktiven Zinslaufs“ auf den Tag der freiwilligen Zahlung und nicht erst auf den Folgetag abzustellen ist.
Im Falle einer freiwilligen Zahlung, die nach dem Beginn des Zinslaufs (Ablauf der Karenzzeit) erbracht und von der Finanzbehörde angenommen wurde, sind Nachzahlungszinsen grds. nur für den Zeitraum bis zum Eingang der freiwilligen Leistung zu erheben und im Übrigen aus Billigkeitsgründen zu erlassen. Die Regelungen in den Beispielen 14 und 15 zu Nr. 70.1.2. AEAO zu § 233a AO zur Berechnung der „fiktiven Erstattungszinsen“ wahren nicht die gesetzlichen Grenzen des Ermessens und machen von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch. Denn es ist nicht ermessensgerecht, für den Beginn des „fiktiven Zinslaufs“ nicht auf den Tag der freiwilligen Zahlung, sondern erst auf den Folgetag abzustellen. Die Berechnung der "fiktiven Erstattungszinsen" im AEAO soll sich an die Zinsregelungen in § 233a AO anlehnen. Hinsichtlich des Beginns des Zinslaufs bestimmt § 238 Abs. 1 S. 2 AO, dass Zinsen von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, zu zahlen sind. Die Formulierung "von dem Tag an" ist zweifelsfrei in dem Sinne zu verstehen, dass der erste Tag des Zinslaufs von Anfang an, also ab 00:00 Uhr, bei der Berechnung des Zinslaufs und der Ermittlung der vollen Monate mitzuzählen ist. Die Regelung in § 238 Abs. 1 S. 2 AO gilt, mangels entgegenstehender Bestimmungen, auch für die Bestimmung des Zinslaufs bei Erstattungszinsen. Das Ermessen des FA ist im Streitfall auf Null reduziert, weil nach der zulässigerweise von der Finanzverwaltung gewählten Billigkeitskonzeption bei freiwilligen Zahlungen allein die Bestimmung der "fiktiven Erstattungszinsen" analog den für Erstattungszinsen geltenden Regelungen sachgerecht ist.

1.2.  Umsatzsteuer

Förmliche Zustellung von Briefsendungen als Teilbereich der Post-Universaldienstleistungen
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist ein Unternehmer, der die förmliche Zustellung von Schriftstücken nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften durchführt, ein "Anbieter von Universaldienstleistungen" im Sinne des Artikel 2 Nummer 13 der Richtlinie 97/67/EG vom 15. Dezember 1997, der die Leistungen des postalischen Universaldienstes ganz oder teilweise erbringt, und sind diese Leistungen nach Artikel 132 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem steuerfrei?
BFH v. 31.05.2017, V R 30/15 u. V R 8/16
Hinweis:
§ 4 Nr. 11b UStG ordnet in seiner heute geltenden Fassung unter Bezugnahme auf das unionsrechtlich harmonisierte Postrecht eine Umsatzsteuerfreiheit sog. Post-Universaldienstleistungen an.
Mit der EuGH-Vorlage soll geklärt werden, ob es sich bei der förmlichen Zustellung von Schriftstücken nach den Vorschriften der Prozessordnungen und der Gesetze über die Verwaltungszustellung nach § 33 Abs. 1 des Postgesetzes um eine Post-Universaldienstleistung handelt und ob diese Leistung nach Art. 132 Abs. 1 Bst. b MwStSystRl als unionsrechtlicher Grundlage von  § 4 Nr. 11b UStG steuerfrei ist. Die Finanzverwaltung sieht derartige Leistungen allgemein als umsatzsteuerpflichtig an.
Die Umsatzsteuerfreiheit bezieht sich nach bisheriger Rechtsprechung auf postalische Dienstleistungen, die den grundlegenden Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen und die damit den gesamten Universalpostdienst in einem Mitgliedstaat oder einem Teil davon gewährleisten. Für eine Steuerfreiheit auf dieser Grundlage spricht aus Sicht des BFH, dass förmliche Zustellungen wie im behördlichen Postverkehr der nachprüfbaren Zustellung von amtlichen Schreiben dienen. Sie ermöglichen die nachprüfbare Zustellung von Klage- und Antragsschriften oder die Zustellung von gerichtlichen Entscheidungen, wodurch Rechtsmittelfristen in Lauf gesetzt werden. Förmliche Zustellungen sind unabdingbar für ein geordnetes Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren und tragen damit zu einer verlässlichen und ordnungsgemäßen Rechtspflege bei. Gleichwohl hat der BFH Zweifel an der zutreffenden Auslegung des Unionsrechts, so dass eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen war.
 
 
 

1.3.  Einkommensteuer

Aufwendungen für IVF einer in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebenden unfruchtbaren Frau als außergewöhnliche Belastung
Aufwendungen einer empfängnisunfähigen (unfruchtbaren) Frau für eine heterologe künstliche Befruchtung durch In-vitro-Fertilisation (IVF) sind als außergewöhnliche Belastung (Krankheitskosten) auch dann zu berücksichtigen, wenn die Frau in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebt.
Da die Aufwendungen dazu dienen, die Fertilitätsstörung der Steuerpflichtigen auszugleichen, sind sie als insgesamt - einschließlich der auf die Bereitstellung und Aufbereitung des Spendersamens entfallenden Kosten - auf dieses Krankheitsbild abgestimmte Heilbehandlung darauf gerichtet, die Störung zu überwinden. Eine Aufteilung der Krankheitskosten kommt insoweit nicht in Betracht.
BFH v. 05.10.2017, VI R 47/15
Hinweis:
Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen. Aufwendungen entstehen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann, soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 S. 1 EStG).
Die Klägerin, die im Streitjahr (2011) in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft lebte, entschloss sich aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit, ihren Kinderwunsch durch eine künstliche Befruchtung mit Samen eines anonymen Spenders zu verwirklichen (heterologe künstliche Befruchtung). Die Behandlung ließ sie in einer dänischen Klinik durchführen. In ihrer Einkommensteuererklärung machte die Klägerin die Kosten dieser Behandlung von rund 8.500 € als außergewöhnliche Belastung i. S. d. § 33 Abs. 1 EStG geltend. Das Finanzamt ließ die Aufwendungen unter Hinweis auf die Richtlinien der ärztlichen Berufsordnungen nicht zum Abzug zu.
Der BFH hat entschieden, dass die Aufwendungen für die künstliche Befruchtung als außergewöhnliche Belastungen abzugsfähig sind.
In ständiger Rechtsprechung geht der BFH davon aus, dass Krankheitskosten - ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung - dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Im Hinblick auf die für den Abzug nach § 33 EStG erforderliche Zwangsläufigkeit wird nicht danach unterschieden, ob ärztliche Behandlungsmaßnahmen oder medizinisch indizierte Hilfsmittel der Heilung dienen oder lediglich einen körperlichen Mangel ausgleichen sollen. Voraussetzung ist allerdings weiter, dass die den Aufwendungen zugrunde liegende Behandlung mit der innerstaatlichen Rechtsordnung im Einklang steht. Denn eine nach nationalem Recht verbotene Behandlung kann keinen zwangsläufigen Aufwand i. S. d. § 33 Abs. 1 EStG begründen. Als außergewöhnliche Belastungen sind daher Kosten für eine künstliche Befruchtung nur zu berücksichtigen, wenn die aufwandsbegründende Behandlung insbesondere nicht gegen das deutsche Embryonenschutzgesetz verstößt und mit den Richtlinien der Berufsordnungen für Ärzte im Einklang steht. Dies bejaht der BFH für den Streitfall, da die Richtlinien der ärztlichen Berufsordnungen mehrerer Bundesländer der bei der Klägerin vorgenommenen Kinderwunschbehandlung nicht entgegenstanden. Der BFH geht zudem von einer Zwangslage zur Umgehung einer vorhandenen Sterilität aus. Diese könne auch bei gleichgeschlechtlichen Paaren nicht verneint werden. Der BFH sieht die Kosten dabei in vollem Umfang als abziehbar an. Eine Aufteilung komme nicht in Betracht, da die Aufwendungen insgesamt dazu dienten, die Fertilitätsstörung der Klägerin auszugleichen.
 
 
 
 
 

Neueste Einträge